Was bleibt vom Menschen im Transhumanismus?

von Dr. Oliver Dürr

Der alte Traum von der Verbesserung der Menschen – die Vision klingt verlockend: ewiges Leben, ein perfekter Körper nach Maß, ein Bewusstsein, das in digitalen Netz­werken existiert. Für Transhumanisten sind dies keine Wunschvorstellungen, sondern konkrete Ziele. Sie verfolgen Ideen zu einer systematischen „Verbesserung“ des Menschen durch Wissenschaft, Medizin und Technik.

Der Wunsch, den Menschen zu optimieren, begleitet uns seit der Antike. Große Denker wie Platon und Aristoteles entwarfen Utopien, wie eine Gesellschaft so verbessert werden könnte, dass der Mensch zu Höchstleistungen beflügelt werden kann. Ziel war es, den Menschen zu heroischen, fast übermenschlichen Taten zu befähigen. Das konnte mit Blick auf ganze Menschengruppen (z. B. die eigenen Soldaten, die dem feindlichen Heer überlegen sein sollten) gedacht werden, aber durchaus auch mit einem Fokus auf individuelle Biographien.

Im Unterschied zu damals verfügen wir heute über revolutionäre technische Möglichkeiten: Gentechnik wie die CRISPR-Systeme, Nanotechnologie, künstliche Intelligenz usw. Mit deren Hilfe, so die Überzeugung von Transhumanistinnen und Transhumanisten, werden die biologischen Grenzen des Menschen überwunden. Was einst nur als Science-Fiction vorstellbar war, rückt damit auf einmal in greifbare Nähe. Die wissenschaftliche Revolution hat uns Instrumente an die Hand gegeben, die unsere Vorfahren für unmöglich gehalten hätten. Es sind vor allem zwei Bereiche, die die transhumanistischen Träume befeuern: Biotechnologie und Informationstechnik. Von ihnen erhoffen sich die Transhumanisten die unbegrenzte Kontrolle über Körper und Geist.

Dabei wäre es irreführend, von „dem“ Transhumanismus als einheitlichem Phänomen zu sprechen. Vielmehr handelt es sich um eine vielschichtige Bewegung mit äußerst unterschiedlichen Erscheinungsformen. Max More, der eine Kryonikfirma besitzt und seine Kundinnen und Kunden mit dem Versprechen lockt, sie (oder auch nur ihre Gehirne) nach ihrem Tod durch Kälte so zu konservieren, dass sie zu einem späteren Zeitpunkt wiederbelebt werden können, gehört ebenso zu den Vertretern des Transhumanismus wie beispielsweise Aubrey de Grey, der als Gerontologe die Auffassung vertritt, dass, wer heute lebt und unter 30 Jahre alt ist, im Grunde genommen unsterblich sein wird. Das begründet er damit, dass die technische und medizinische Entwicklung mittlerweile so rasch fortschreite und die je neu entdeckten Mittel zur Lebensverlängerung so wirkungsvoll seien, dass sie die Zeit bis zur nächsten solchen Entwicklung überbrücken könnten, die ein noch längeres Leben ermöglicht. Ein weiterer Vertreter des Transhumanismus, der einiges Aufsehen erregt hat, ist Kevin Warwick. Der britische Kybernetiker forscht zur Verschmelzung des menschlichen Nervensystems mit Computertechnik. Er wurde bekannt als der „erste Cyborg“ (d. h. ein „Mischwesen“ aus biologischem Organismus und Maschine), weil er sich einen Computer-Chip implantieren ließ, mit dem er Türen öffnen, Lampen an- und ausschalten und Heizkörper bedienen kann.

Die Vielfalt dieser Ansätze zeigt: Der Transhumanismus ist kein monolithisches Gedankengebäude, sondern ein Spektrum von Zukunftsvisionen. Was die hier skizzierten Ansätze (und viele weitere, die den Rahmen dieses Artikels überschreiten würden) eint, ist die Überzeugung: Der Mensch in seiner jetzigen Form ist ein unfertiges Projekt, das durch technologische Intervention optimiert werden muss.

Doch hier stellt sich schon eine grundlegende Frage: Was bedeutet eigentlich „Optimierung“ bzw. wie wird das Leben wirklich „besser“? Transhumanisten operieren meist mit quantifizierbaren Parametern – höhere Intelligenz, besseres Gedächtnis, geschärfte Sinne. Diese Fokussierung auf das, was messbar ist, offenbart ein weit verbreitetes, mechanistisches Menschenbild. Dabei wird oft vergessen, dass vermeintliche „Defizite“ oft sinnvolle Anpassungen des Menschen sind, die das Leben in einer komplexen Welt überhaupt ermöglichen.

Ein aufschlussreiches Beispiel ist unsere Fähigkeit zu vergessen: Was zunächst als Schwäche erscheint, erweist sich bei näherer Betrachtung als essenzieller Mechanismus unserer kognitiven Architektur. Das Vergessen hilft uns, relevante von irrelevanten Informationen zu trennen und uns in der Komplexität des Lebens zurechtzufinden. Nur so können wir aus der überfordernden Vielzahl an Eindrücken ein kohärentes Ganzes machen, das wir als Lebensgeschichte begreifen können. Menschen mit absolutem Gedächtnis hingegen berichten oft von der enormen psychischen Belastung, die diese Fähigkeit mit sich bringt.

Dieses Beispiel zeigt den Ankerpunkt einer fundamentalen Kritik am Transhumanismus: Die vermeintliche Optimierung einzelner Parameter kann unvorhersehbare Auswirkungen auf das komplexe System Mensch haben. Was auf den ersten Blick als Verbesserung erscheint, könnte sich als problematischer Eingriff in fein austarierte biologische, psychologische und geistige Gleichgewichte erweisen. Ist also ein „Schneller, Höher, Weiter“ tatsächlich auch immer ein „Besser“? 

Mit dem Körper oder gegen den Körper? Biologischer und postbiologischer Transhumanismus

In der praktischen Ausgestaltung ihrer Visionen
verfolgen Transhumanistinnen und Transhumanisten zwei grundlegend verschiedene Ansätze. Die biologische Variante des Transhumanismus setzt auf die Optimierung unseres bestehenden Körpers: leistungsfähigere Organe, ein erweitertes Gehirn, die systematische Integration von Technologie in unseren Organismus. Ein prominentes Beispiel ist Elon Musks Neuralink-Projekt – eine Gehirn-Computer-Schnittstelle, die eine direkte Verbindung zwischen menschlichem Denken und digitaler Welt schaffen soll. 

Diese Entwicklungen erscheinen zunächst als logische Weiterführung bestehender medizinischer Praktiken. Schließlich nutzen wir bereits heute technische Hilfsmittel wie Herzschrittmacher, Cochlea-Implantate oder Prothesen. Doch der biologische Transhumanismus geht einen entscheidenden Schritt weiter: Er will nicht nur Defizite ausgleichen, sondern die natürlichen Fähigkeiten des Menschen systematisch überbieten. Warum bei einer Augenoperation nur die normale Sehkraft wiederherstellen, wenn man gleichzeitig Nachtsicht oder mikroskopische Fähigkeiten implementieren könnte?

Der postbiologische Transhumanismus dagegen würde sagen: Was evolutionär aus dem menschlichen Körper geworden ist, ist eigentlich ineffizient. Der organische Körper an sich ist ein überholtes Modell – schwach, störanfällig und letztlich verzichtbar. Der Wesenskern eines Menschen, das, was ihn ausmacht, ist in dieser Betrachtungsweise nicht sein Körper, sondern sein Gehirn. Oder noch präziser formuliert: die biochemischen Prozesse und elektrischen Signale in seinem Gehirn. Die Hoffnung des postbiologischen Transhumanismus ist es, jenseits der Begrenztheit der körperlichen Existenz eine Existenz als digitale Entität zu erlangen, befreit von biologischen Limitierungen: Das Bewusstsein des Menschen wäre demgemäß eine transferierbare „Software“, die von der störanfälligen „Hardware“ des biologischen Körpers getrennt und auf ein widerstands- und zukunftsfähigeres Medium wie einen Computer transferiert werden kann.

Die „Heilsversprechen“ – Kerngedanken des Transhumanismus

Ein zentrales Anliegen des Transhumanismus ist das der „morphologischen Freiheit“ – die Vorstellung einer absoluten Freiheit zur Selbstgestaltung. Jedes Individuum soll demnach die uneingeschränkte Freiheit haben, seinen Körper nach eigenen Vorstellungen zu modifizieren. Diese radikale Autonomie soll keine Grenzen kennen – weder kulturelle noch religiöse, nicht einmal biologische. Das „Ich“ ist dann in keinster Weise mehr durch seinen Körper oder andere äußere Gegebenheiten mehr festgelegt, sondern kann vielmehr den eigenen Körper und – sofern andere Subjekte dadurch nicht geschädigt werden – auch die umliegende Welt mithilfe von Wissenschaft, Medizin und Technik ganz nach den eigenen Wünschen und Vorstellungen gestalten. Der Mensch soll sich aus der Sklaverei des natürlichen Lebens befreien. In letzter, radikalster Konsequenz geht es dem Transhumanismus also um eine Selbsthervorbringung des Menschen, die an keinerlei äußere Vorgaben gebunden ist.

Damit das möglich ist, muss die Welt (mit technischen Mitteln) restlos verfügbar gemacht werden, nur so kann sie gemäß dem menschlichen Willen gestaltet werden. Der Transhumanismus postuliert also eine Welt, in der alles wissenschaftlich erfassbar und technisch beherrschbar ist. Technik wird zum universellen Heilmittel stilisiert, zur Lösung sämtlicher menschlicher Probleme. Diese Position läuft auf einen fast religiösen Glauben an die Allmacht von Wissenschaft und Technik hinaus – eine Art Determinismus des Technischen.

Und das führt zu einem dritten Kerngedanken des Transhumanismus, der – aus christlicher Sicht durchaus problematisch – genuin religiöses Terrain berührt: Ähnlich wie das Christentum verspricht auch der Transhumanismus die Überwindung des Todes, allerdings nicht durch göttliche Gnade, sondern durch technologische Innovationen. Das ewige Leben soll nach Auffassung des Transhumanismus durch ein Arsenal moderner Technologien erlangt werden: Genmanipulation, Nanoroboter, die digitale Replikation des Bewusstseins.

Das Heil, von dem das Christentum spricht, unterscheidet sich also kategorial von dem Heil, das
der Transhumanismus verheißt: Dieser reduziert nämlich das Heil auf genießbare Lebenszeit und
versteht die menschliche Sterblichkeit als rein tech­nisches Problem.

Kernelement des christlichen Glaubens ist hingegen die Einsicht in die Sündhaftigkeit und Gebrochenheit des Menschen, der Welt insgesamt. Diese führt zwar in den Tod, bleibt aber nicht im Tod, sondern sie kann auferstehen und in ein neues Leben hinein erweckt werden. Das sind die beiden großen Heilsversprechen des christlichen Glaubens: Durch Gottes Gnade und Gottes Wirken kann nicht nur der Tod, sondern auch die Sündhaftigkeit und Gebrochenheit, die Verkrümmtheit des Menschen in sich selbst, sein Egozentrismus überwunden werden.

Demgegenüber haben Transhumanistinnen nur einen dieser beiden Aspekte – die physische Lebensverlängerung – im Blick. Die „Menschenverbesserung“ des Transhumanismus wird auf die Spitze getrieben, bis hin zu dem expliziten Versprechen: Wir können den Tod überwinden. Wir können dein Leben mit ganz konkreten Mitteln verlängern, dass du nicht sterben musst, wenn du das nicht willst.

Freilich ist klar, dass wirklich ewiges Leben auf diesem Weg schon allein deshalb nicht möglich ist, weil dafür gewissermaßen die kosmischen Voraussetzungen nicht gegeben sind: In ein paar Milliarden Jahren wird das Universum – oder zumindest unsere Erde – zu einem Ende kommen. Präzise formuliert lautet also das Versprechen des Transhumanismus, dass der Tod so lange wie möglich mit wissenschaftlichen und technischen Mitteln hinausgezögert werden kann. Aber Seele und Geist des Menschen sind damit – auch wenn man am Körper basteln kann – eben noch nicht geheilt.

Und hier setzt auch eine weitere Kritik am Transhumanismus an, die man aus christlicher, aber auch aus einfach menschlich-humanistischer Sicht anführen muss: Es gibt zweifellos technischen Fortschritt, die Frage ist aber, wie wir diese Technik einsetzen. Und es sind am Ende Menschen, die diese Technik einsetzen. Das heißt, das Problem des Todes ist nicht nur ein technisches Problem, es ist auch ein menschliches Problem, ein Problem der menschlichen Freiheit und Selbstbestimmung und auch seiner Tugend und seiner Charakterform. Echten Fortschritt gibt es nur im Verbund mit Fortschritten der Menschlichkeit. Andernfalls handelt es sich um eine bloße Technisierung des Lebens. Ich kann einen Kuss schon per Emoji abwickeln, der ist dann technisiert, aber deshalb noch lange nicht besser. 

So gesehen sind viele „Heilsversprechen“ des Transhumanismus auf den ersten Blick durchaus verlockend, werfen aber bei näherer Betrachtung kritische Fragen auf: Was bedeutet es für unser Selbstverständnis, wenn wir den Menschen primär als optimierbares System betrachten? Welche ethischen Implikationen hat eine grenzenlose Freiheit (und Pflicht?) zur Selbstgestaltung? Und sind wir Menschen überhaupt so veranlagt, dass wir die Technik, die technischen Mittel und Potenziale, die wir haben, zum Guten einsetzen und damit die Welt wirklich besser machen?

Transhumanismus – Herausforderungen und Verantwortung des christlichen Glaubens

In der Wahrnehmung vieler Menschen belegt der Transhumanismus den technischen Bereich, das Eintreten für technischen Fortschritt, komplett für sich. Hier muss man jedoch klar unterscheiden: Einerseits das, was technisch und wissenschaftlich geht, was es auf diesem Gebiet für Errungenschaften gibt, auf die auch wir als Christinnen und Christen uns positiv beziehen, die wir einordnen können und für die Gestaltung einer besseren Zukunft einsetzen wollen. Als Christen sind wir nicht per se technikkritisch oder wissenschaftsfeindlich.

Demgegenüber steht der Transhumanismus als nur eine spezifische Interpretation von Wissenschaft und Technik unter vielen. Und diese Interpretation und vor allem das dahinterstehende Verständnis von Mensch und Technik kann man, ja muss man, kritisieren.

Was es dann aber braucht, sind Alternativen. Und das wäre die erste Aufgabe einer christlichen „Techniktheologie“ im gesellschaftlichen Diskurs: sich heute zu überlegen, wie wir eine bessere Zukunft mit der Technik gestalten und ob diese Technik es uns ermöglicht, diese bessere Zukunft zu gestalten. Unsere Verantwortung liegt darin, die Welt so zu gestalten, dass sie wirklich besser wird. Dass sich uns die Wirklichkeit in ihrer Fülle erschließt, dass sie uns am Ende menschlicher macht und dass sie es uns auch
erlaubt, diejenige Zukunft zu gestalten, die wir
wirklich wollen.

Das erfordert ein realistischeres Menschenbild – und dieses in den Diskurs einzubringen, ist die zweite große Aufgabe von uns Christinnen und Christen: Faktisch ist der Mensch unfrei – unfreier als ihm lieb ist – und wo immer er sich selbst und seine Möglichkeiten im Kampf gegen diese Unfreiheit überschätzt, läuft er Gefahr, die erstrebte Freiheit in neue Unfreiheiten zu pervertieren: So mündet das Anliegen, den Menschen bis zur Unsterblichkeit zu optimieren, letztlich in der Abschaffung des Menschen. Der Mensch kann sich nicht selbst hervorbringen und nur sehr begrenzt verlustfrei umgestalten.

An dieser Stelle lohnt es sich, den „Heilsversprechen“ des Transhumanismus den heilvollen Blick des biblischen Menschen- und Weltbildes gegenüberzustellen: Das Christentum versteht die Wirklichkeit nicht als in sich selbst geschlossene „Natur“ bzw. als Ressourcenpool, sondern vielmehr als eine wesentlich auf Gott bezogene Schöpfung. Die Welt ist von Gott als Schöpfer gemacht und bleibt in jedem Moment ihrer Existenz auf ihn bezogen. Damit ist die Welt nicht mehr nur auf ihre immanenten Möglichkeiten beschränkt, sondern wirklich offen für eine von Gott her auf sie zukommende Zukunft.

Aus diesem auf Gott hin offengehaltenen Weltbild ergibt sich dann auch ein anderes Menschenbild: Der Mensch ist substanziell mehr als nur die materiellen, energetischen Prozesse des Körpers, Geist ist mehr als nur Informationsverarbeitung. Vor dem absoluten und grenzenlosen Gott erscheint der Mensch ganz deutlich in seiner Endlichkeit, Kontingenz und Begrenztheit. Aber gleichzeitig wird der Mensch in christlicher Perspektive auch als Ebenbild dieses Gottes erkannt und darf deshalb nicht im reduktiven Sinne unterschätzt werden. Das christliche Menschenbild kann den Menschen – genau in der Mitte von Selbstüberschätzung und Selbstunterschätzung – als das wertschätzen, was er ist: Es sieht die Ganzheit in all seinen Fragmenten.

Auf dieser Grundlage ist dann schließlich auch ein nüchternes und kritisches Nachdenken über die Technik möglich: Sie ist nicht nur ein neutrales Mittel, das wir brauchen, um unsere Zwecke zu erfüllen, sie macht auch immer etwas mit uns, sie verändert unser Selbstverständnis, und deswegen braucht es neue Ansätze, wie wir theologisch über Technik und die Gestaltung der Zukunft nachdenken. Diese Ansätze werden eine Alternative zum Transhumanismus, das ist eine der großen Aufgaben des christlichen Glaubens in unserer digitalen und technischen Welt.