Es scheint, als ob sich ein Vorhang in eine dunkle Welt einen Spalt weit öffnet. Wir erleben, wie aus einem breiten Spektrum christlicher Denominationen schreckliche Missbrauchsskandale ans Licht kommen. Dahinter stehen
unzählige tragische Geschichten von individuellen Leben, die unwiederbringlich zerstört wurden. In der Geschichte unserer eigenen Organisation haben wir das zuletzt selbst erlebt. Der große Missbrauchsskandal in unserer amerikanischen Partnerorganisation (RZIM) um deren Gründer Ravi Zacharias war für uns schockierend, äußerst schmerzhaft und hat uns zur Reflektion herausgefordert.
Wer anfängt, Überlebenden zuzuhören, der bekommt eine leise Ahnung davon, was Missbrauch zerstört, wie Leben kaputtgehen, Potenziale an ihrer Entfaltung gehindert und Menschen zum Schweigen gebracht werden. Dass Menschen ausgerechnet in Kirchen und christlichen Organisationen unfassbares Leid angetan wird, lässt uns als Christinnen und Christen fassungslos zurück. Wo ihnen Schutz versprochen wurde, erleben sie Ausbeutung. Wo sie Vertrauen gefasst, sich in Sicherheit gewähnt haben, werden sie getäuscht von Wölfen im Schafspelz, die stehlen und ausbeuten und zerstören. Orte und Menschen, die für den Schutz der Schwachen, für Nächstenliebe und Vertrauen bekannt sein wollen, entpuppen sich als die größten Gefahrenzonen. Natürlich tritt scheinheiliges Verhalten von Gläubigen auch in anderen Bereichen zutage: Geistliche, die Geld veruntreuen oder alkoholisiert am Steuer erwischt werden. Doch dank der gesteigerten gesellschaftlichen Sensibilität, nicht zuletzt durch die MeToo-Debatte, bewegt uns wohl nichts so sehr wie die Fälle von geistlichem und sexuellen Missbrauch.
Persönliche Begegnungen bestätigen mir, dass Überlebende mitten unter uns sind: in unseren Kirchen und Gemeinden, in unseren Studierendengruppen, unter unseren Arbeitskolleginnen. Dass sich Menschen angesichts solcher Erfahrungen von Christen, der Kirche und letztlich von Gott selbst abwenden, ist mehr als verständlich. Wo sie sich dafür entscheiden, neu Vertrauen zu Menschen im kirchlichen Kontext zu fassen, kann ich nur meine tiefe Bewunderung und meinen Dank dafür ausdrücken, im Wissen, dass ich mir nicht annähernd vorstellen kann, was sie das gekostet haben muss.
Angesichts all dessen drängt sich meines Erachtens berechtigterweise die Frage auf: Wenn Christen ihre Macht auf so schreckliche Art und Weise missbrauchen, ist damit dann nicht auch der christliche Glaube diskreditiert? Wenn die Vertreterinnen und Vertreter so unglaubwürdig sind, müssten wir uns dann nicht konsequenterweise auch von Gott verabschieden?
Gott den Rücken kehren
Ich halte diese Gedanken für absolut verständlich. Doch meine ich, dass es sich lohnt, einmal zu fragen, welche Auswirkungen es auf unsere Sicht der Thematik hat, wenn wir das Puzzleteil „Gott“ entfernen.
Beim Thema Missbrauch reagieren wir emotional mit Wut, Trauer und Entsetzen. Gehen wir unseren
Gefühlen einmal auf den Grund, dann wird auf abstrakterer Ebene deutlich, dass wir hier von einem objektiven Richtig und Falsch ausgehen: einem äußeren Standard, der unabhängig von unserer Zeit und Kultur gültig ist. Wir gehen von einer äußeren Messlatte aus, wenn wir sagen, dass es falsch ist, wenn Menschen die Grenzen ihrer Macht überschreiten oder im Verborgenen ihre Macht missbrauchen. Auch viele Menschen, die sich nicht als religiös bezeichnen, sind der festen Überzeugung, dass es sich hier nicht um Fragen handelt, die relativ, je nach Kultur und Zeit, anders beantwortet werden, sondern um absolute Werte. Wir sehnen uns nach Gerechtigkeit, es schmerzt uns, wenn ein Täter nie überführt wird, die Kirche alles erfolgreich vertuscht oder ein Gericht ein Verfahren wegen Verjährung einstellt.
Wenn wir uns jedoch vom Gedanken an einen Gott verabschieden, wird es viel schwieriger zu begründen, warum Dinge absolut falsch sind, warum Recht und Unrecht tatsächlich existieren und nicht einfach Ansichtssache sind. Auf seinem Weg zum christlichen Glauben war für den englischen Schriftsteller und Literaturwissenschaftler C. S. Lewis genau dieser Gedanke wichtig; er sagt: „Mein Argument gegen Gott lautete, das Universum sei doch offenbar so grausam und ungerecht. Aber woher nahm ich meine Vorstellung von gerecht und ungerecht? Man nennt ja schließlich keine Linie krumm, wenn man nicht eine Vorstellung von einer geraden Linie hat.“
Wenn wir davon ausgehen, dass es einen moralischen Gesetzgeber gibt, ist das die stabilste Grundlage
für die Existenz von Gut und Böse. Dann geht die Messlatte, an der wir uns orientieren, auf Gott selbst zurück. Unser starkes Empfinden, dass es ein Richtig und Falsch gibt, unser Leiden an Scheinheiligkeit und missbrauchter Macht sind dann letztlich ein Hinweis auf Gottes Existenz. Dann hat er damit etwas in uns hineingelegt von seiner Sehnsucht nach Gerechtigkeit und seiner Solidarität mit den Unterdrückten. Der Gottesgedanke bildet die philosophische Grundlage dafür, Machtmissbrauch und Scheinheiligkeit anzuprangern, in der Kirche, aber auch in anderen Bereichen der Gesellschaft.
Eine neue Vision
Es lohnt sich aber meines Erachtens noch aus ganz anderen Gründen, Gott bei dieser Frage nicht außer Acht zu lassen. Die biblischen Autoren machen auf eindrückliche Art und Weise darauf aufmerksam, wie Gott sich zu den Betroffenen stellt und einen ganz anderen Umgang mit Macht vorschlägt. Diese biblische Vision von Machtausübung hat das Potenzial, nicht nur unsere Kirchen, sondern unsere Gesellschaft insgesamt positiv zu prägen.
Nach dem Bild der Bibel gehört Gott selbst alle Macht, jedoch gibt er davon etwas ab und vertraut seinen Geschöpfen Macht an. Menschliche Macht ist somit immer von Gott anvertraute Macht. Diese Sichtweise ist wie eine Leitplanke dafür, wie Menschen ihre Macht ausüben sollen: nicht um sich selbst zu bereichern und andere auszubeuten, sondern entsprechend dem Auftrag, den Gott ihnen gegeben hat. Mit der ihnen anvertrauten Macht sollen sie anderen Menschen dienen und Gott so verherrlichen.
An Jesus Christus wird uns Gottes Vorstellung von dienender Herrschaft eindrücklich vor Augen gemalt. Verschiedene Formen von Macht, die etwa physischer, emotionaler oder verbaler Art sind, werden von Jesus so eingesetzt, dass er damit anderen Menschen dient und sie wieder aufrichtet. In einer von Machtmissbrauch gezeichneten Welt geht es ihm um die Heilung von Wunden und einen neuen Weg unseres Miteinanders. Formen von missbrauchter Macht wie Selbstgerechtigkeit und Scheinheiligkeit verurteilt Jesus aufs Schärfste.
Überlebende von Missbrauch kämpfen häufig damit, dass sie sich selbst verantwortlich fühlen für das, was ihnen angetan wurde. Angesichts dessen ist es gerade aus Perspektive der Opfer extrem heilsam, wie klar Jesus betont, dass das Böse aus dem Innern der Täter und Täterinnen kommt (Markus 7). Demnach liegen Grenzüberschreitungen niemals an den Umständen oder dem Verhalten des Opfers, das etwa unethisches Verhalten provoziert hätte, sondern allein am Charakter des Täters. Jeder Mensch kann sich dafür entscheiden, die ihm anvertraute Macht zum Schutz und Segen einer verletzlichen Person einzusetzen oder zu deren Schaden. Das Böse kommt nicht von außen und schon gar nicht vom am Boden liegenden Opfer. Damit betont Jesus die so wichtige Botschaft für Betroffene: Sie sind niemals selbst schuld an dem, was ihnen angetan wurde.
Reden Christinnen und Christen zu schnell von Vergebung?
Rachael Denhollander, Juristin und Überlebende von sexuellem Missbrauch in Kirche und Sport, macht überzeugend darauf aufmerksam, wie in kirchlichen Kontexten häufig einseitig auf Unrecht reagiert wird: Schnell werde von Vergebung geredet, doch der Aspekt der Gerechtigkeit für Opfer werde darüber vernachlässigt. Sie betont, dass die Bibel von einem Gott berichtet, der Gerechtigkeit liebt und sich für die Opfer einsetzt. Denhollander wurde bekannt, weil sie als Erste öffentlich gegen Larry Nassar ausgesagt hat, den US-Teamarzt der Turnerinnen, der Hunderte von Mädchen missbraucht hatte. An ihrer eigenen Geschichte macht sie deutlich, dass Gerechtigkeit und Vergebung nicht gegeneinander ausgespielt werden dürfen, sondern dass Gerechtigkeit gerade die Grundlage für Vergebung ist. Im Prozess gegen Larry Nassar forderte sie Gerechtigkeit und plädierte für die Höchststrafe, gleichzeitig jedoch vergab sie dem Täter persönlich.
Dass Gott ein Gott ist, der Gerechtigkeit liebt und den das Unrecht schmerzt, lässt sich eindrücklich vor dem Hintergrund des Gedankens der Gottebenbildlichkeit des Menschen verstehen. Im jüdisch-christlichen Denken ist der Mensch viel mehr als eine zufällige Ansammlung von chemischen Reaktionen. Wie wenn sich ein Star-Architekt mit dem Bau einer Kirche verewigt oder ein Gemälde die Insignien einer Malerin trägt, so trägt jeder Mensch die Unterschrift seines Künstlers. Er ist mehr wert als die wunderschöne und tragisch abgebrannte Notre Dame Kirche in Paris, mehr als ein Gemälde von van Gogh oder Cézanne, denn Gott selbst hat sich in ihm verewigt. Das gibt dem Menschen Wert und Würde und zeigt, warum seine Unversehrtheit nicht angetastet werden darf. Gott selbst verletzt es, wenn seine Geschöpfe Schaden nehmen und letztlich beim Missbrauch etwas von ihm in dieser Welt kaputtgeht.
Wie ist seine Reaktion darauf? Ich denke, Gott weint. Wie Jesus am Grab von Lazarus weint, so weint er jedes Mal, wenn eines seiner Kunstwerke Schaden nimmt. „Jesus, der weint angesichts dessen, was mir angetan wurde. Dieses Bild hat mich getröstet und getragen“, sagte mir eine Überlebende.
Ganz andere Dynamiken können in Organisationen, in deren Reihen Missbrauch geschah, beobachtet werden. Diane Langberg, Psychologin und weltweit anerkannte Expertin zu diesem Thema, geht in ihrem Buch „Redeeming Power. Understanding Authority and Abuse in the Church“ ausführlich darauf ein. Statt um konsequente Aufklärung zum Wohl der betroffenen Menschen bemüht zu sein, seien Verantwortliche häufig darauf fokussiert, dass der Ruf ihrer Organisation in der Öffentlichkeit keinen Schaden nehme. „Doch interessiert sich Gott für den Erhalt von Systemen auf Kosten der ihnen anvertrauten Menschen?“, fragt Langberg kritisch. Jesus ging es immer um das Wohl vulnerabler Menschen und nicht etwa um den Erhalt eines korrupten Tempelsystems. Doch die Konfrontation mit der unter Umständen schmerzhaften Realität sei besonders für Menschen innerhalb des Systems herausfordernd. Menschen gingen dem intuitiv aus dem Weg, ließen sich lieber beruhigen und beschwichtigen, weil für sie persönlich viel auf dem Spiel stehe. Deshalb, so betont Langberg, sei es so wichtig, dass eine Aufklärung der Vorwürfe immer durch Menschen außerhalb des Systems erfolge.
Dabei gibt es im Evangelium Hoffnung für Täter.
Der „Hypokrites“, der Scheinheilige, bezeichnete im alten Griechenland einen Schauspieler. Als solcher hat er in der Antike Masken getragen und eine ihm fremde Rolle gespielt. Die schockierenden Skandale in Kirchen und christlichen Organisationen zeigen, wie Menschen unter Umständen jahrelang eine Maske tragen, wie sie versuchen eine Fassade aufrechtzuerhalten, und sich später als Schauspieler entpuppen. Die befreiende Botschaft des Evangeliums ist, dass Jesus nicht zur Perfektion einlädt, sondern zur Authentizität. Es geht darum, ehrlich zu sein, zu Fehlern zu stehen und die Maske abzulegen.
Diese Einladung fordert mich auch persönlich heraus. Auch mir ist in vielen unterschiedlichen Bereichen Macht anvertraut, verbaler oder emotionaler Art. Wage ich einen ehrlichen Blick, wird mir deutlich, wie schnell ich meine Macht auf Kosten Schwächerer missbrauche. Statt zu meinen Fehlern zu stehen, setze ich eine Maske auf und versuche mich zu verstecken. Doch Jesus wendet sich von mir nicht ab, wenn ich Fehler mache, sondern lädt mich liebevoll ein, ehrlich zu sein. In der schmerzhaften Konfrontation mit der Wahrheit liegt die Chance zur Umkehr und Erneuerung.
Auch wenn der Blick auf die vielen Skandale in Kirchen und christlichen Organisationen schmerzhaft ist, lohnt es sich, dass wir Gott nicht den Rücken kehren, sondern uns für schonungslose Aufklärung und Gerechtigkeit für die Opfer einsetzen – in unseren Kirchen und in der Gesellschaft. Der christliche Glaube bietet beides: eine solide Grundlage für einen objektiven Standard von moralischen Prinzipien und eine inspirierende Vision dafür, wie Macht in unserer Welt ausgeübt werden soll, damit menschliches Leben zum Aufblühen kommt.