Der Kreuzestod Jesu

von Julia Garschagen

Jesus ist am Kreuz für uns gestorben – aber: Wieso braucht es das überhaupt? Kann Gott nicht einfach so vergeben? Und überhaupt: Wie kann ein liebender Gott so blutrünstig sein? In unserer westlichen Zivilisation haben wir die Todesstrafe längst abgeschafft – sollte Gott nicht langsam mal etwas humaner werden?

Bei all diesen berechtigten Anfragen stellt sich die Frage: Was ist eigentlich das Gute an der „Guten Nachricht“ vom Kreuzestod Jesu? Und wie können wir dieses Geschehen heute, im 21. Jahrhundert, verstehen?  

Was ist überhaupt das Problem?  

Für Christinnen und Christen ist meist klar: Das Problem ist die Sünde. Aber was ist das überhaupt? Die meisten Menschen, mit denen ich spreche, verstehen unter Sünde entweder Mord oder das Stück Sahnetorte, das man sich gegönnt hat, obwohl man gerade eine Diät macht. 

Beides hilft nicht gerade weiter, denn: Einen Mord habe ich nicht begangen. Und beim Abnehmen hilft Jesus mir auch nicht. Das Kreuz scheint also keine Relevanz im Alltag zu haben. Oder? Vielleicht doch, denn: Was wir alle aus dem Alltag kennen, sind zumindest vier Aspekte von Zerbrochenheit in unserer Welt.  

Verstrickung in systemische Ungerechtigkeit  

Kriege, Rassismus, Korruption, Gewalt gegen Frauen und Kinder – die Welt ist nicht so, wie sie sein sollte. 50 Millionen Menschen leben weltweit in moderner Sklaverei, um unseren Lebensstandard – unser Smartphone und unseren Kaffee –  zu ermöglichen. Die Menschen des globalen Südens tragen die Hauptlast des Klimawandels, den wir Industrienationen verursachen. Das sind dramatische systemische Ungerechtigkeiten. Unterschiedliche Bereiche sind in unheilvollen Abhängigkeiten miteinander verstrickt. Nicht immer gibt es eindeutige Schuldige, die Grauzonen sind unübersichtlich. 

Als Individuen tragen wir vielleicht keine unmittelbare Schuld. Aber wir nehmen Ungerechtigkeit zumindest billigend in Kauf. Wir tragen Verantwortung. Wir lassen uns verstricken in ungerechte Systeme und werden Teil davon. 

Verletzungen 

Eine weitere grundlegende menschliche Erfahrung, die wir teilen, ist: Wir alle werden verletzt. Wir kommen nicht durchs Leben, ohne Wunden und Narben davonzutragen. Es liegt eine besondere Tragik in der Tatsache, dass meistens dort die tiefsten Verwundungen auf uns warten, wo auch die Möglichkeit des höchsten Glücks liegt: in Beziehungen. Verletzende Worte, missbräuchliches Verhalten, das Nicht-Gesehen-Werden, die zerbrochene Beziehung. All das hinterlässt Narben in unserer Seele. Oft versuchen wir, sie zu verbergen und damit zu leben. Aber da sind sie ja trotzdem. 

Schuld 

Gleichzeitig sind wir nicht nur Verletzte – wir verletzen auch selbst. So geht es mir zumindest: Ich bin oft nicht die, die ich gerne wäre. Ich weiß zwar (manchmal), was das Richtige wäre, aber tue es dann doch nicht. Ich verletze – bewusst oder unbewusst, ich sage selbst das schneidende Wort, ich verstoße gegen meinen eigenen Maßstab von Integrität. Ich werde schuldig. An anderen Menschen, an dieser Welt, an mir selbst.  

Ich teile, was der russische Autor Alexander Solschenizyn sehr eindrücklich beschrieb: 
„Wenn es nur so einfach wäre! – daß irgendwo böse Menschen mit böser Absicht böse Werke vollbringen und es nur darauf ankäme, sie unter den übrigen zu erkennen und zu vernichten. Aber der Strich, der das Gute vom Bösen trennt, durchkreuzt das Herz eines jeden Menschen. Und wer mag von seinem Herzen ein Stück vernichten?“

Scham 

Eine vierte Grunderfahrung menschlichen Erlebens ist
Scham. Während Schuld vermittelt: „Du hast etwas falsch gemacht!“, redet die Scham uns ein: „Du bist falsch!“. Sie betrifft uns in unserem Wesenskern, unserer Identität.  

Wir schämen uns für Dinge, die wir getan haben, aber auch für das, was uns angetan wurde. So denken z.B. Mobbingopfer oder Betroffene von sexualisierter Gewalt häufig, dass das, was ihnen geschehen ist, an ihnen liegen müsse, dass es einen Grund in ihnen gäbe, warum sie so behandelt wurden. Sie wurden beschämt und die Botschaft ist: „Du bist dreckig. Du gehörst nicht dazu!“  

Scham isoliert, schließt uns von Beziehungen aus und führt dazu, dass wir denken: Niemand darf je davon erfahren! Auf diese Weise werden Opfer zum Schweigen gebracht – und Täter geschützt. 

Wie wichtig die Beschäftigung mit Scham als einem Aspekt des Erlebens von Zerbruch ist, wird deutlich, wenn man bedenkt, dass die Unterscheidung zwischen „richtig“ und „falsch“ in der Postmoderne zunehmend individualisiert wird – was richtig und was falsch ist, wird immer subjektiver. Eine Begleiterscheinung dieser wachsenden Subjektivität ist die Tatsache, dass die Trennung zwischen Sach- und Person-Ebene aufgelöst wird. Während es früher eher möglich war, einen argumentativen Streit zu haben und danach gemeinsam ein Bier trinken zu gehen – weil zwischen dem Menschen und seiner Meinung unterschieden wurde – gilt heute eher: Der Mensch ist, was er tut oder sagt. Das bedeutet umgekehrt, dass man durch einen Fehltritt schnell „Persona non grata“ wird – also als ganze Person ausgeschlossen wird. Es hat sich eine neue Form der Schamkultur entwickelt, die von den Sozialen Medien zusätzlich befeuert wird.    

Verstrickung in Ungerechtigkeit, Verletzungen, Schuld und Scham – in meinen Gesprächen mit Menschen aus unterschiedlichsten Hintergründen merke ich: Wir alle teilen diese Grunderfahrungen menschlicher Existenz in der Zerbrochenheit dieser Welt. Die Frage, die sich darum stellt, ist: 

Woher kommt dieser Zerbruch?  

Mit der Frage nach der Wurzel des Bösen befassen sich alle Weltanschauungen auf die eine oder andere Weise. Christinnen und Christen glauben: Verstrickung, Verletzungen, Schuld und Scham sind Symptome eines tieferliegenden Problems. Ähnlich wie bei den Fichten in meiner Heimat, die in den letzten Jahren braune Nadeln bekamen. Das eigentliche Problem der Bäume war aber kein Nadel-Problem. Die braunen Nadeln waren nur ein Symptom dafür, dass die Wurzeln krank und vertrocknet waren. Auf Grund der klimawandelbedingten
Trockenheit bekamen sie nicht mehr genug Wasser. Ähnlich, wie die Fichte nur gedeihen kann, wenn sie genügend Wasser bekommt, ist der Mensch darauf angelegt, in liebevollen Beziehung zu leben.  

Wissenschaftler und Wissenschaftlerinnen verschiedenster Fachrichtungen sind sich einig: Der Mensch ist ein Beziehungswesen. Als Christin glaube ich, dass der Grund dafür ist, dass wir von einem Gott geschaffen sind, der von seinem Wesen her Beziehung und Liebe ist. Wir leben in Beziehung zu anderen, zu uns selbst, und zu unserer Umwelt. Die zentralste Beziehungen ist für mich aber die vertikale, die zu Gott, weil von ihm die bedingungslose, göttliche Liebe kommt, die wir so sehr brauchen. Doch diese Liebe Gottes, für die wir geschaffen sind, wird durch die Abkehr von Gott und die Hinwendung zu anderen „Göttern“ – seien es Macht, Geld oder der eigene Intellekt – untergraben. Wir suchen Halt in Dingen, die eigentlich viel zu schwach sind, um uns Halt geben zu können. „Hamartía“ nennt die Bibel das – das Wort, das oft mit „Sünde“ übersetzt wird, bedeutet wörtlich „Zielverfehlung“. Wir leben an unserer Bestimmung, unserem Lebenssinn vorbei. Davon spüren oft auch die etwas, die sich selbst als „religiös unmusikalisch“ bezeichnen würden. So formulierte z. B. der amerikanische Schriftsteller und bekennende Atheist David Foster Wallace: 

„Man kann sich aussuchen, was man anbeten will […] Denn hier ist noch etwas, das wahr ist: In den alltäglichen Schützengräben eines Erwachsenen gibt es in Wahrheit keinen Atheismus. Es gibt niemanden, der nicht anbetet. Jeder betet etwas an. Die einzige Frage ist, was wir anbeten. Und ein herausragender Grund dafür, einen Gott anzubeten ist, dass eigentlich alles andere, das du anbetest, dich auffressen wird. Wenn du Geld anbetest und materielle Dinge, wirst du nie genug bekommen können. Bete deinen Körper an, dein Aussehen und sexuelle Bedürfnisse und du wirst dich immer hässlich fühlen. Und wenn sich die Zeit und dein Alter bemerkbar machen, wirst du tausend Tode sterben, bevor sie dich irgendwann endgültig zu Grabe tragen.“

Was tut Gott? 

Wenn das das Dilemma ist, in dem wir als Menschen stehen: Was ist dann die Lösung? Welche Heilung gibt es?  Ich glaube, eine Antwort darauf finden wir in Kreuz und Auferstehung. Hier zeigt sich: Gott hat sich selbst so eng mit seinen Geschöpfen verbunden, dass er alles einsetzt. Seine Liebe läuft uns hinterher – selbst in den Tod.  

Es ist eben nicht so, dass Gott „einen anderen“ schickt – seinen hilflosen Sohn, der gegen seinen Willen vom grausamen, empathielosen Vater „geopfert“ wird. Ja, Jesus wird als „Sohn Gottes“ bezeichnet. Das ist ein Versuch, ein sprachliches Bild zu finden für etwas, für das wir keine Sprache haben. „Der Vater und ich sind eins“, sagt Jesus und meint damit: „Ich bin Gott selbst!“ Das heißt: In Jesus kommt Gott selbst auf diese Welt, um unsere Herzen zu gewinnen. Er kommt in die Gottverlassenheit des Todes. Seit dem Tod Jesu muss uns nichts mehr von Gott trennen, selbst der Tod nicht. Wie Paulus später schreibt: „Nicht der Tod und auch nicht das Leben […] kann uns von der Liebe Gottes trennen. In Christus Jesus hat Gott uns diese Liebe geschenkt“ (Röm 8,38-39, BB).  

Das Geschenk dieser bedingungslosen Liebe Gottes gilt jeder und jedem – egal, wo wir herkommen, welche Hautfarbe wir haben, wen wir lieben und wie unser Leben bisher aussah. Gott lädt uns, seine Freunde, seine Kinder zu sein und stellt damit ganz tief in uns etwas wieder her.  

Was aber heißt das konkret? Welche Auswirkungen hat das Kreuz auf die vier Dimensionen des Zerbruchs?  

Das Kreuz und unsere Schuld 

Am Kreuz kulminiert die Boshaftigkeit und Grausamkeit der Menschen. Jesus hält sie aus, trägt sie und nimmt sie gleichsam in sich auf. Er trägt unsere Schuld in den Tod, sodass sie die Macht über uns verliert. Luther nennt das den „wunderbaren Tausch“: Jesus nimmt unsere Ungerechtigkeit, unser Versagen, unsere Fehler mit sich in den Tod. Und wir bekommen seine Großzügigkeit, seine Integrität, sein liebvolles Leben. Das bedeutet: Neuanfang, Vergebung und Freiheit! 
Aber ist es nicht unmoralisch, jemand anderem die Schuld in die Schuhe zu schieben? Ich würde sagen: im Zwischenmenschlichen auf jeden Fall!  

Hier aber übernimmt Gott selbst die Verantwortung, die uns zerbrechen würde. Jesus steht, wo wir nicht stehen können. Die Freiheit, die uns dadurch ermöglicht wird, bedeutet: Ich kann mich den Konsequenzen meines Handelns mutig stellen. Weil ich keine Angst mehr haben muss, dass ich daran zerbreche. Ich muss nichts mehr leugnen oder wegschieben, sondern kann mich meiner Schuld ehrlich stellen, weil ihr die Macht genommen wurde. Das bedeutet neue Würde, in deren Licht wir es wagen können, Verantwortung zu übernehmen, wo wir uns schuldig gemacht haben. 

Das Kreuz und unsere Verletzungen 

Der Theologe Jürgen Moltmann hat zu Recht kritisiert, dass wir in der Art und Weise, wie wir vom Kreuz sprechen, „täterorientiert“ und „opfervergessen“ seien. Gott aber vergisst die Opfer nicht. Unser Schmerz ist ihm nicht egal.  „Durch seine Wunden seid ihr geheilt“, schreibt Petrus in 1. Petr 2,24. Das Kreuz zeigt: Gott leidet mit uns, wenn wir leiden. Und das bedeutet: Wir müssen nicht immer härter werden – er sieht unsere Verletzungen.  

Und schafft Gerechtigkeit, wo wir selbst Unrecht erfahren haben. Denn am Kreuz zahlt jemand für die Ungerechtigkeit, die uns angetan wurde. Jemand steht dafür gerade – Gott selbst! Das, was uns angetan wurde, ist so relevant, dass Gott selbst dafür gerichtet wird. Er trägt Verantwortung.  

Das bedeutet: Der christliche Gott ist nicht gerecht auf Kosten der Liebe. Oder liebevoll auf Kosten der Gerechtigkeit. Sondern: Am Kreuz zeigt sich die Liebe durch die Gerechtigkeit. Und die Gerechtigkeit in der Liebe. Wir brauchen beides, weil wir immer Verletzende und Verletzte sind. 

Das Kreuz und unsere Scham 

Die Psychologin Diane Langberg berichtete in einem Vortrag von einer Klientin, die durch einen Überfall zutiefst beschämt und schwer traumatisiert war. Langberg empfahl ihr, eine Woche lang jeden Tag die Geschichte von der Kreuzigung Jesu zu lesen. Als die Klientin in der nächsten Woche wiederkam, sagte sie immer wieder einen Satz: „Sie rissen ihm die Kleider vom Leib!“ Genau das hatte sie selbst erlebt. Die Erkenntnis, dass der heilige, mächtige Gott dieselbe Gewalt und Demütigung durchlebt hatte, war für sie zutiefst heilsam. Sie erlebte, wie sich in Jesus das Heilige mit dem Schamvollen verband und wie daraus eine tiefe Verbundenheit zwischen Gott und ihr entstand. 

Verbundenheit ist die beste Heilung gegen Scham, weil Scham uns immer das Gefühl gibt, ausgeschlossen zu sein, nicht dazuzugehören. Jesus, der Strahlende, der Heilige begibt sich am Kreuz – nackt, verspottet und öffentlich zur Schau gestellt – mitten rein in unserer Scham. Er verbindet sich mit unserem Gefühl, dreckig, minderwertig, falsch zu sein und lässt uns nicht alleine damit. Und dann nimmt er all das Schamvolle mit in den Tod. So bricht er die Macht der Scham und eröffnet einen Weg zu einer neuen Identität, zu einer Wiederherstellung unserer Würde. 

Das Kreuz und unsere Verstrickungen in ungerechte Systeme 

Auf die so brennende Frage: „Wo ist Gott in all der sich auftürmenden Ungerechtigkeit?“; lautet die Antwort des Kreuzes: „Er ist mittendrin – im Zentrum der Verstrickung!“ Jesus wird Opfer von Intrigen und systemischer Ungerechtigkeit. Er durchschreitet die Auswegslosigkeit bis auf den Grund. Das heißt: Es gibt keinen einzigen Menschen, keine einzige Situation, keinen einzigen Ort, der gottverlassen ist. Mitten im Leid gilt: Gott weiß, was es bedeutet, und wir können uns an ihn klammern. 

Das ist (leider) keine Antwort auf die Frage, warum Gott die Ungerechtigkeit zulässt. Und ich gestehe ehrlich: Diese Frage brennt in mir weiter!  

Aber dass ich an einen Gott glaube, der bereit ist, sich sprichwörtlich die Hände, die Füße und das ganze Sein schmutzig zu machen, zeigt mir, dass er glaubwürdig ist. Gott übernimmt am Kreuz Verantwortung für die Verstrickungen dieser Welt.  

Weil ich sehe, dass er alles einsetzt – sogar sein eigenes Leben – um unseren Zerbruch zu heilen, kann ich vertrauen, dass er mit dieser Welt an sein Ziel kommen wird. Gerade angesichts der Verstrickungen und Ungerechtigkeiten merke ich immer wieder, wie wichtig es ist, dass nach dem Kreuz die Auferstehung kommt. Dass Jesus ins Leben zurückkommt, zeigt, dass der Tod, das ultimativ Böse und Sinnlose, nicht das letzte Wort behält. Es gibt Hoffnung – auch für die Zerrissenheit der Welt. Besonders einprägsam ist von dieser hoffnungsvollen Zukunftsaussicht  am Ende der Bibel die Rede: 

„Gott wird alle ihre Tränen abwischen. Es wird keinen Tod mehr geben, kein Leid und keine Schmerzen, und es werden keine Angstschreie mehr zu hören sein. Denn was früher war, ist vergangen. […] Seht, ich mache alles neu!“ (Offb 21,4-5, NGÜ).

Das fängt jetzt schon an – noch im Kleinen und in einzelnen Menschen. Aber ich glaube, dass Gott eines Tages alles ans Licht bringen wird: die Ungerechtigkeit, die Korruption, den Missbrauch. Er wird es zurecht-richten, zurechtrücken und uns und diese Welt heilen und befreien.  

Die Einladung Jesu: ein neuer Anfang 

Das ist die Einladung, die uns allen gilt. In seinem Tod und seiner Auferstehung sagt Jesus zu uns: „Komm und bring alles zum Kreuz. Ich trage es für dich, damit du heil wirst. Und frei. Dass du neu anfangen kannst“. Das ist die Einladung der Liebe und diese Liebe gilt – auch Ihnen, auch heute.